Die alte Holzbrücke wurde vor 120 Jahren abgerissen
11.01.2022 Aktuell, Foto, Kultur, Gesellschaft, LützelflühVor 120 Jahren musste die alte Holzbrücke zu Lützelflüh, die den unteren Dorfteil mit dem oberen verband und eine gefahrlose Überquerung der Emme ermöglichte, einem Neubau weichen. Sie bestand von 1584 bis 1902. Das Holzkonstrukt gilt als bedeutendes Zeugnis bernischer Brückenbaukunst. Während mehr als vier Jahrhunderten trotzte die Brücke unzähligen Unwettern und Hochwassern. Ihre Bedeutung für das Leben der Menschen sowie für die Entwicklung von Handel und Gewerbe in der Region kann kaum hoch genug eingestuft werden.
Ein Gemeinschaftswerk
Im 16. Jahrhundert brach im Emmental ein regelrechtes Brückenbau-Fieber aus, ausgelöst durch wirtschaftlichen Aufschwung und Bevölkerungswachstum. Im Jahr 1550 wurde in Schüpbach eine Brücke über die Emme errichtet, 1552 folgte die Lauperswil-Brücke. Die Ilfisbrücke entstand 1560. In Lützelflüh existierte als Übergang damals nur ein einfacher Steg für Fussgänger, der von den wilden Fluten häufig mitgerissen wurde. Wer mit Ross und Wagen unterwegs war, überquerte die Emme an einer seichten Stelle, einer Furt. Dies war keineswegs ungefährlich: Immer wieder ereigneten sich tragische Unglücksfälle. Um Abhilfe zu schaffen, spannten die vier Gemeinden Lützelflüh, Sumiswald, Hasle und Trachselwald zusammen: Mit Genehmigung der Gnädigen Herren von Bern und ihrer finanziellen Hilfe bauten sie im Jahr 1584 eine gedeckte Holzbrücke. Diese stand auf mehreren Jochen. Die hohen Widerlager der Fahrbahn an beiden Seiten des Ufers hoben die Brücke relativ weit über das Wasser und sorgten so für Schutz vor Hochwassern. Neben der Berner Regierung unterstützten zahlreiche weitere Gemeinden wie Oberburg, Rüegsau, Heimiswil, Wynigen und Affoltern das Bauprojekt mit einem Geldbetrag. Dies zeigt, dass die Solidarität zwischen den Gemeinden damals spielte und der Bau weit über Lützelflüh hinaus von Bedeutung war. Die Brückengemeinden Lützelflüh, Sumiswald, Hasle und Trachselwald investierten gesamthaft 3185 Pfund in den Bau – damals eine stolze Summe.
Zollgebühren
Wer die Brücke fortan mit Handelswaren im Gepäck überqueren wollte, musste ein Entgelt entrichten – den sogenannten Brückenzoll. Dies war keineswegs aussergewöhnlich. In alten Zeiten wurden nicht bloss an den Landesgrenzen, sondern auch im Landesinnern Zollgebühren erhoben – an Strassenkreuzungen, bei Stadttoren und eben bei Brücken. Mit obrigkeitlicher Genehmigung wurde in Lützelflüh ein «Schlachzuch», eine Schranke, auf der Strasse installiert. «Kam ein Hausierer mit Kurzwaren in der Kräze des Weges, ein Händler mit Vieh- oder anderen Waren, oder sonst jemand mit irgendetwas, mit dem er ‹gwirbete›, so betätigte der Zöllner den Schlachzuch und es hiess Halt. Er kontrollierte die Ware, las den Tarif an den ‹Zoll-Taffelen› neben der Brücke oder dem Zollhaus ab und forderte danach den Zoll», schreibt Lokalhistoriker Max Frutiger. Auch wer seine Braut über die Brücke heimführte, musste für sie ab 1673 einen Obolus entrichten. Die Gnädigen Herren Berns überliessen den vier Brückengemeinden die Hälfte der Zolleinnahmen gegen eine Unterhaltspflicht, die andere Hälfte floss in die Staatskasse. Vom Brückenzoll waren neben den Städten Burgdorf und Bern auch all jene Gemeinden befreit, welche den Bau der Brücke finanziell unterstützt hatten. Dies galt allerdings nur für Hausrat und Hausbrauch. Händler, welche den Zoll umgehen wollten, indem sie die Emme über das Wasser durchquerten, mussten mit einer Busse oder gar der Konfiskation ihrer Waren rechnen.
Hochwasser
Die Lützelflüh-Brücke war die einzige Brücke des Emmentals, die nicht durch den «Eggiwilfuhrmann» weggerissen wurde, sondern an Altersschwäche starb. Die kaum gezähmte Emme verwandelte sich bei Unwettern immer wieder in einen reissenden Strom – eine Naturgewalt, welche Schrecken und Zerstörung verbreitete. Eine der grössten Sturmfluten ereignete sich im August 1764. Damals zerstörte die über die Ufer tretende Emme 24 Häuser in Rüegsauschachen. Von Hasle bis Burgdorf bildete sich ein sieben Fuss tiefer See. Die Brücke von Lützelflüh hielt den Wassermassen und dem mitgeschleppten Geröll
stand, wurde aber beschädigt und musste repariert werden. Ein weiteres Jahrhunderthochwasser, das sich ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung einbrannte, suchte das Emmental am 13. August 1837 heim. Die Brücke in Lützelflüh überstand das Unwetter nur mit viel Glück; andere Brücken wie jene in Hasle wurden von der Wasserflut mitgerissen. Der Pfarrer und Schriftsteller Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf schilderte in seiner Schrift «Die Wassernoth im Emmental» die dramatischen Szenen, die sich damals abspielten, mit folgenden Worten: «Auf einmal erscholl der Emme Gebrüll in dem friedlichen, sonntäglichen Gelände. Man hörte sie, ehe sie kam, lief an die Ufer, auf die Brücke. Da kam sie, aber man sah sie nicht, sah anfangs kein Wasser, sah nur Holz, das sie vor sich her zu schieben schien, mit dem sie ihre freche Stirne gewappnet hatte zu desto wilderem Anlauf. […] Dem wilden Strome war auch diese Brücke im Wege. Er stürmte mit Hunderten von Tannen an deren Jöcher, schmetterte Trämel um Trämel nach, stemmte mit grossem Haufen Holz sich an, schleuderte in wütendem Grimme ganze Tannen über diese Haufen weg an die Brücke empor wie Schwefelhölzchen.»
Infolge weiterer Unwetterschäden wurde die Brücke von Lützelflüh im Jahr 1842 vorübergehend für den Fahrverkehr gesperrt. Die Berner Regierung drängte die Brückengemeinden, die notwendigen Reparaturen rasch vorzunehmen, da die Postkutsche von Bern nach Luzern über Lützelflüh fuhr und wegen der Schliessung mit grosser Verspätung an der Zieldestination eintraf.
Flösserei – ein wichtiger
Wirtschaftszweig
Handelswaren wurden früher selbstverständlich nicht nur über Strassen und Brücken transportiert. Die Emme selbst diente insbesondere bei der Schneeschmelze und nach Regengüssen als wichtiger Verkehrsweg. Mittels der Flösserei wurden Käse, Butter, Brenn- und Bauholz sowie andere Waren, ja sogar Vieh, über das Wasser transportiert. Der «Bären»-Wirt in Langnau erhielt 1632 das Recht, jedes Jahr ein Floss zu zimmern. Mit diesem führte er seine leeren Weinfässer nach Solothurn; das Flossholz verkaufte er nach der Fahrt. Die Berner Obrigkeit war der Flösserei nicht besonders wohlgesonnen. Zum einen bereitete ihr der überbordende Holzexport auf der Emme Kopfzerbrechen; zum anderen litten Brücken, Schwellen und Dämme unter dem Transport auf dem Wasserweg. Es kam immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen schwellenpflichtigen Einwohnern sowie Flossbesitzern und Flössern. Letztere mussten für die verursachten Schäden aufkommen. Auch die Brücke von Lützelflüh wurde oft in Mitleidenschaft gezogen. Die schwer beladenen Flösse, gezimmert aus Bautannen, waren oft über 20 Meter lang. Mit Verordnungen und Einschränkungen versuchte die Regierung, Missbräuche zu bekämpfen. Im Jahr 1834 erliess sie ein Gesetz, das die Maximallänge und -breite der Flösse beschränkte, das aber auf heftigen Widerstand stiess. 1870 wurde die Flösserei auf der Emme und Ilfis verboten.
Die Schachenleute
Die Besiedlung des als Schachen bezeichneten Schwemmgebiets entlang der Emme erfolgte verhältnismässig spät unter dem Druck des Bevölkerungswachstums im 16. Jahrhundert. Insbesondere die ärmere Bevölkerungsschicht versuchte, sich im überschwemmungsgefährdeten, lebensfeindlichen Schachen in kleinen Hütten eine Existenz aufzubauen. Die damit verbundene Rodung des Ufergeländes zeitigte natürlich einen verheerenden Effekt bei Hochwasser. Die Regierung verpflichtete die Schachengemeinden deshalb zum Bau von Dämmen und Verbauungen. Nach katastrophalen Überschwemmungen erliess die bernische Obrigkeit 1766 bis 1768 Schwellenreglemente für den ganzen Flusslauf. Lange Zeit haftete den Bewohnerinnen und Bewohnern der Schachensiedlungen aufgrund ihrer Armut ein äusserst schlechter Ruf an. Sie galten als liederlich, verkommen und faul. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die Schachenquartiere wie jene in Lützelflüh infolge besserer Verkehrserschliessung und der Zähmung der Emme zu prosperierenden Siedlungsgebieten.
Übernahme durch den Staat
Nach 1800 erhöhten sich die finanziellen Lasten der vier Brückengemeinden durch sich häufende Reparaturen und Erneuerungsarbeiten. Deshalb begehrten die Gemeinden die vollständige Übernahme der Brücke durch den Staat – allerdings jahrzehntelang ohne Erfolg. Um die Verhandlungen mit dem Kanton zu erleichtern, wurde das Statut der vier Brückengemeinden geändert. Trachselwald, Sumiswald und Hasle traten am 4. September 1899 ihre Anteile und die damit verbundenen Rechte und Pflichten an die Gemeinde Lützelflüh für 6300 Franken ab. Am 25. Januar 1901 schloss die Einwohnergemeinde Lützelflüh mit der Baudirektion des Kantons einen Vertrag über die alte Brücke und die Erstellung einer neuen.
Neubau mit kurzer Lebensdauer
Unter kantonaler Ägide wurde unmittelbar oberhalb der alten Holzbrücke eine eiserne Fachwerkgitterbrücke errichtet. Ende 1902 war der Bau vollendet, sodass die letzte Stunde der altehrwürdigen Brücke geschlagen hatte. Die Abrissarbeiten dauerten vom 18. bis 22. Dezember 1902. Die Lebensdauer der neuen Konstruktion war äusserst kurz: Bereits 1971 musste sie, von Rost zerfressen, durch die heutige Eisenbetonbrücke ersetzt werden.
Redewendungen wie «Brücken schlagen», «goldene Brücken bauen» oder «Brücken hinter sich abbrechen» sind feste Bestandteile unseres Sprachgebrauchs. Sie zeugen von der immensen Bedeutung von Brücken wie jener von Lützelflüh, welche die sichere Überquerung der Emme ermöglicht und die Voraussetzung für den Zusammenhalt der Gemeinde bildet.
Markus Hofer
Quelle: Max Frutiger: Die Brücke zu Lützelflüh (1584–1902), Langnau 1978.