Stimmungstief, Lebenskrise oder Depression?

  07.11.2024 Burgdorf, Gesellschaft, Aktuell

Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen und können jeden treffen. Ungefähr 20 Prozent aller Menschen leiden einmal in ihrem Leben daran. In ihrem Vortrag «Stimmungs­tief, Lebenskrise oder Depression?» zeigen Dr. med. Katja Montag, Co-Chef­ärztin der Psychiatrie, und Dr. med. Michael Strehlen, Chefarzt der Psychia­trie, auf, was eine Depression von einer alltäglichen Verstimmung unterscheidet und wann aus einer gedrückten Gemütslage eine behandlungsbedürftige Depression wird. Auch Fragen nach möglichen Ursachen, Symptomen und Behandlungsmöglichkeiten werden von den Fachpersonen der Psychiatrie des Spitals Emmental beantwortet.

«D’REGION»: Welche Symptome und Anzeichen deuten darauf hin, dass es sich um eine ernsthafte Depression handelt und nicht nur um eine vor­übergehende Phase der Niedergeschlagenheit?
Michael Strehlen: Eine vorübergehende Phase von Niedergeschlagenheit wird auch als Verstimmung bezeichnet und durch alltägliche Stressfaktoren oder negative Erlebnisse ausgelöst. So kann dies Stress bei der Arbeit, Konflikte in Beziehungen, Enttäuschungen oder einfach nur ein schlechter Tag sein. Verstimmungen zeigen sich in der Regel durch Traurigkeit, Reizbarkeit, Müdigkeit und Motivationslosigkeit. Sie sind normalerweise kurzfristig und verbessern sich nach einigen Stunden oder Tagen ohne professionelle Hilfe.
Eine Depression ist eine ernstzunehmende psychische Erkrankung, welche sich durch typische Symptome wie anhaltende Traurigkeit und Leere, Verlust von Interesse und Freude an Aktivitäten, verminderter Antrieb, Schlafstörungen, Appetitveränderungen, Störungen der Sexualität, Konzentrationsstörungen, Minderwertigkeits- und Schuldgefühle oder Gedanken an Tod und Suizid äussert. Diese Symptome liegen seit mindestens zwei Wochen vor und beeinträchtigen das tägliche Leben. Wobei nicht alle Symptome vorkommen müssen, es reichen einige wenige.


«D’REGION»: Wie kann man als Angehöriger oder Freundin erkennen, dass jemand möglicherweise an einer Depression leidet?
Michael Strehlen: Für Angehörige oder Freunde kann es besorgniserregend sein, wenn sich Veränderungen im Verhalten oder in der Stimmung einer nahestehenden Person zeigen. Dabei gibt es einige Hinweise, die für eine Depression sprechen können: Die Person wirkt über einen längeren Zeitraum hinweg traurig oder hoffnungslos, sie reagiert schneller gereizt oder verärgert, ist weniger aktiv und hat weniger Interesse an Aktivitäten, die normalerweise Freude bereiten. Auch Verhaltensänderungen wie sozialer Rückzug, eine verminderte Leistungsfähigkeit, veränderte Schlafgewohnheiten oder Gewichtsveränderungen infolge von reduziertem oder gesteigertem Appetit deuten auf eine Depression hin. Häufig zeigt sich ein Energieverlust und auch körperliche Beschwerden wie Schmerzen oder Magen-Darm-Probleme können auftreten. Der Selbstwert ist vermindert und das Denken geprägt von negativen Themen wie Selbstvorwürfen oder Gedanken an den eigenen Tod.

«D’REGION»: Gibt es spezifische Risikofaktoren oder Lebensumstände, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an einer Depression zu erkranken?
Michael Strehlen: Bei familiärer Vorbelastung erhöht sich das eigene Risiko aufgrund genetischer Veranlagung. Ein Ungleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn wie Serotonin, Noradrena­lin oder Dopamin kann die Stimmung und die Emotionen beeinflussen. Veränderungen der Hormonspiegel, zum Beispiel in der Pubertät, während oder nach einer Schwangerschaft, in den Wechseljahren, können Depressionen begünstigen. Auch chronische Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurologische Krankheiten oder Schilddrüsenprobleme sind Risikofaktoren für das Auftreten von Depressionen. Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie eine hohe Selbstkritik oder eine pessimistische Grundeinstellung, Schwierigkeiten beim Umgang mit Stress und emotionalen Belastungen, aber auch traumatische Lebenserfahrungen begünstigen das Auftreten depressiver Symptome. Im Hinblick auf die Lebensumstände gilt, dass stressige Lebensereignisse (zum Beispiel der Verlust einer geliebten Person oder der Wechsel in eine andere Lebensphase), soziale Isolation, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Diskriminierung und Stigmatisierung das Risiko für Depressionen erhöhen. Substanzmissbrauch, mangelnde körperliche Aktivität, ungesunde Ernährung sowie Schlafprobleme sind weitere Faktoren. Ebenso können gewisse Medikamente Depressionen als mögliche Nebenwirkungen haben.

«D’REGION»: Wie beeinflusst eine Depression das tägliche Leben der Betroffenen und ihre Fähigkeit, alltägliche Aufgaben zu bewältigen?
Michael Strehlen: Depressionen haben einen erheblichen Einfluss auf das tägliche Leben der Betroffenen. Symp­tome wie emotionale Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit oder ein Gefühl von Leere können dazu führen, dass selbst einfache Tätigkeiten wie das Aufstehen am Morgen, die Körperpflege oder Haushaltsarbeiten als unmöglich empfunden werden. Aktivitäten, die früher Freude bereitet haben, verlieren ihren Reiz und das Interesse an Hobbys und sozialen Kontakten schwindet. Es kann zu sozialem Rückzug kommen mit Tendenz zu Isolation und Einsamkeit. Betroffene haben Schwierigkeiten mit der Konzentration, dem Gedächtnis und dem Treffen von Entscheidungen, was häufig zu zusätzlichem Stress führt. Störungen der Schlafgewohnheiten wie Schlaflosigkeit oder übermässiges Schlafen können zu einem chronischen Erschöpfungszustand führen. Das Leben depressiver Menschen ist insgesamt von einem ständigen Gefühl der Überforderung geprägt, was den Leidensdruck und das Gefühl von Hilflosigkeit verstärkt.

«D’REGION»: Welche Behandlungsmöglichkeiten für Depressionen gibt es und wie unterscheiden sich diese je nach Schweregrad der Erkrankung?
Michael Strehlen: Behandlungsmöglichkeiten für Depressionen umfassen psychotherapeutische, medikamen­töse oder kombinierte Ansätze, die je nach Schweregrad der Symptome variieren. Bei leichteren Depressionen stehen Psychotherapie und Selbsthilfe­massnahmen im Vordergrund. Dabei spielt auch die Psychoedukation, also das Verstehen der Depression und ihrer Muster, eine wichtige Rolle. Die kognitive Verhaltenstherapie ist eine bewährte Methode, welche auf das Erkennen und Verändern von negativen Gedankenmustern abzielt. Auch andere therapeutische Ansätze wie die systemische Therapie, bei der auch das Umfeld miteinbezogen wird, oder die psychoanalytische Therapie sind wirksam. Selbsthilfemassnahmen wie die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Online-Programmen können den Betroffenen helfen, die Symptome zu bewältigen. Lichttherapie, Kunst- und Musiktherapie, Ergo- und Physiotherapie, Aktivierungstherapie und Bewegungstherapie stellen zusätzliche nicht medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten dar. In der Regel wird bei leichten Depressionen keine medikamentöse Behandlung empfohlen, ausser bei starker Belastung durch die Symptome oder fehlendem Ansprechen auf andere Therapien. Mittelschwere Depressionen werden üblicherweise mit einer Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten behandelt. Antidepressiva wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer sind dabei oft Mittel der Wahl. Zusätzlich spielen eine regelmässige körperliche Aktivität, eine gesunde Ernährung und die soziale Unterstützung eine wichtige Rolle und sollten begleitend zur Therapie gefördert werden, um den Heilungsprozess zu unterstützen. Im Falle von schweren Depressionen ist eine medikamentöse Behandlung notwendig. Zusätzlich zu Antidepressiva können in einigen Fällen auch Kombinationen verschiedener Medikamente (zum Beispiel Antipsychotika oder Stimmungsstabilisatoren) erforderlich sein. Bei schweren Depressionen wird die psychotherapeutische Behandlung intensiver durchgeführt, manchmal sogar in einem stationären oder tagesklinischen Rahmen.

«D’REGION»: Welche praktischen Tipps und Strategien haben Sie für Betroffene, um im Alltag besser mit ihrer Depression umzugehen?
Michael Strehlen: Im Alltag kann eine feste Tagesstruktur helfen. So ist es zum Beispiel sinnvoll, zur gleichen Zeit aufzustehen, regelmässig und gesund zu essen und feste Schlafenszeiten einzuhalten. Rituale, mit denen man zur Ruhe kommen kann, können sehr unterstützend sein, beispielsweise ein warmes Bad, Lesen oder der Verzicht auf Bildschirmzeit vor dem Schlafengehen. Das Setzen kleiner, erreichbarer Ziele hilft dabei, schrittweise Fortschritte zu machen und sich nicht von grossen Aufgaben abschrecken zu lassen. Regelmässige Bewegung ist wichtig, denn bereits leichte körperliche Aktivitäten wie Spaziergänge, Yoga oder Radfahren können helfen, die Stimmung zu verbessern. Das Einplanen positiver Aktivitäten oder Hobbys ist sinnvoll. Wichtig sind auch der Kontakt und der regelmässige Austausch mit Freunden oder Familie. Entspannungs- oder Achtsamkeits­übungen können dabei unterstützen, kreisende Gedanken zu durchbrechen und Stress abzubauen. Sich in Geduld zu üben und sich einzugestehen, dass man nicht immer fehlerfrei und perfekt funktionieren kann, ist wichtig. Das Führen eines Tagebuches hilft dabei, Gedanken und Gefühle besser zu verstehen und einzuordnen. 

zvg


Vortrag Burgdorf: Donnerstag, 14. November 2024, 19.00 Uhr (Kurslokal Spital Emmental, Oberburgstrasse 54, EG); Vortrag Langnau: Donnerstag, 21. November 2024, 19.00 Uhr (Spital).


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