«Nacherzählt» – Nachfahren von Holocaust-Überlebenden erzählen

  20.11.2024 Hindelbank, Bildung / Schule, Jugend

Das Projekt «Nacherzählt» von der Stiftung für Erziehung und Toleranz (SET) hat das Ziel, dass der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät. Im Rahmen dieses Projektes besuchen Nachfahren von Überlebenden des Genozids an den Juden Schulklassen. So auch Paula Jane Martin, die den Schülerinnen und Schülern der Klassen 9a und 9b von Hindelbank die Geschichte ihres Vaters erzählte. Nachfolgend berichten drei Schülerinnen in einem selbst verfassten Text über das Erfahrene und die Geschichte eines Holocaustüberlebenden. red

Paula Janes Vater hiess George Morton. Sein richtiger Name lautete jedoch Jiri Morgenstern und er wurde im Jahr 1921 in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Es gab zwei Quellen, die Paula für die Rekonstruktion der Flucht ihres Vaters verwendete: Die Briefe, die ihr Vater einer jungen Frau namens Renée nach London schickte, und das Tagebuch von Anina Korati, einer engen Freundin ihres Vaters. George war verliebt in Renée. Ihre Eltern schickten sie mit 16 Jahren als Au-pair nach London, um sie in Sicherheit zu bringen. Die Briefe waren sehr emotional und hatten eine Länge von bis zu vier Seiten. George hielt in einem Brief sogar um Renées Hand an. Durch die Briefe wollte Paula mehr wissen und begann zu recherchieren. Sie übersetzte die Briefe, befragte Bekannte ihres Vaters und kam so zum Tagebuch, welches Anina auf der Flucht mit George geschrieben hatte. Die Briefe an Renée zeigten, wie die damalige Lage in der Tschechoslowakei war und wie sich die Situation für die Juden verschlimmerte. So gab es zum Beispiel einen Brief, in dem Renées Vater schrieb, dass die Juden nicht mehr in die Bibliothek dürften, er dies zwar nicht gutheisse, aber auch nicht weiter schlimm finde, da er ja genug Bücher zu Hause habe. In einem anderen Brief schrieb George, dass Juden nun nicht mehr zur Universität gehen dürfen. Studierende, die es trotzdem versucht hätten, seien erschossen worden. Die Aktionen gegen die Juden waren in den Briefen immer mit einem kleinen Schimmer Hoffnung geschrieben. Hoffnung, dass diese ganze Tyrannei bald vorbei sein werde. Als die Nazis die ganze Tschechoslowakei besetzt hatten, wurde es für Jüdinnen und Juden schwierig, das Land noch zu verlassen. Georges Eltern versuchten mehrmals vergeblich, auszuwandern. Mit viel Geld und mit etwas Glück kamen George, Anina und weitere junge Erwachsene im Jahr 1940 zu einem Fahrschein für eine Schiffsfahrt nach Palästina. Palästina war damals unter britischem Mandat. Dank diesem Fahrschein erhielten sie die Erlaubnis, die Tschechoslowakei zu verlassen. Über die Donau reisten die jungen Menschen nach Konstanza in Rumänien. In Bratislava gab es vorher einen längeren Aufenthalt und es war ungewiss, ob sie weiterreisen dürften. Hier lebten die jungen Menschen in grosser Angst, war doch Wien nur wenige Reisestunden entfernt und die Deportationen von Jüdinnen und Juden in vollem Gange. In Konstanza bestiegen sie ein altes, heruntergekommenes Schiff, welches im Hafen bereits Schieflage hatte. Anina schrieb in ihr Tagebuch, dass sie sich sicher sei, dass dieses Schiff ihren Tod bedeuten werde. Das Schiff war mit 1800 Menschen total überladen. Auf See brachen die Masern aus. Die Flüchtlinge aus Polen waren nicht geimpft, diejenigen aus der Tschechoslowakei hingegen schon. Viele wurden krank und starben. Die Toten wurden einfach über Bord geworfen. Das Essen war knapp und die Kohle ging aus. Zum Heizen wurden Teile des Schiffs verbrannt. Die Reise auf dem Schiff dauerte zwei Monate und kein anderes Schiff auf See kam ihnen zu Hilfe. Irgendwie erreichte das Schiff den Zielhafen. Als sie in Palästina ankamen, war die Reise jedoch noch nicht zu Ende. Die Briten befürchteten durch die jüdischen Flüchtlinge Aufstände in der arabischen Bevölkerung. Darum wurden George und seine Gruppe weiter nach Mauritius gebracht. Dort lebten die jungen Menschen in einem Gefängnis, waren dafür aber nun in Sicherheit. Im Jahr 1943 durften sich jüdische Männer der britischen Armee anschliessen, so gelang George schlussendlich nach England. Dort heiratete George seine Jugendliebe Renée. Die Ehe wurde jedoch nach einigen Jahren geschieden und George heiratete später Paulas Mutter. Paula erzählte, die Flucht habe ihren Vater gezeichnet. Es war ihm zum Beispiel wichtig, dass immer genug Essen im Kühlschrank war. Er schlief kaum in der Nacht. Unter dem Bett hatte er einen Notfallkoffer mit den wichtigsten Dokumenten bereit, falls er wieder flüchten müsste. Er sagte oft, er sei sehr froh, dass Paula und ihre Brüder einen britischen Pass hätten und so bei einem weiteren Holocaust sicher seien. Für ihn sei klar, dass er sich bei einem weiteren Holocaust umbringen würde. Die letzten Berufsjahre arbeitete George in Konstanz und lebte mit seiner Familie in der Ostschweiz. Im Jahr 1998 verstarb George. Er hatte kaum über das Erlebte gesprochen. Als Renées Briefe in England zum Vorschein kamen, begann Paula seine Geschichte zu rekonstruieren. Von seiner Familie überlebten nur er und sein Halbbruder Hans. Hans überlebte dank eines Kindertransports von Nicolas Winton. Alle anderen Familienmitglieder wurden in Auschwitz getötet. Paula zeigte uns die Deportationskarte ihrer Grosseltern, zuerst nach Theresienstadt und anschliessend nach Auschwitz.
Paula Martins Besuch hat die Klassen beeindruckt und gab dem Holocaust ein Gesicht, einen Namen und eine Geschichte.

Michelle, Kaylen und Lia aus der Klasse 9a, Schule Hindelbank

 


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