Auf der letzten Fahrt vor der Pension wurde Andreas Kast von seiner Familie im Führerstand begleitet. Der Zug fuhr pünktlich um 16.43 Uhr auf Gleis 11 in den Bahnhof Burgdorf ein. Auf dem Triebzug stand geschrieben: «Fahrt in den Ruhestand». Während ihn im Zug die Fahrgäste mit einem kräftigen Applaus verabschiedeten, warteten auf dem Perron bereits viele Bekannte, Arbeitskollegen und bereits Pensionierte. Ein letztes Winken aus dem Führerstand, dann stieg Andreas Kast aus dem Zug und begrüsste die Anwesenden. Mit einem Extrabus fuhren die Gäste anschliessend nach Lyssach ins «Mäucherstübli».
Bei einem gemeinsamen Apéro und Nachtessen wurde Andreas Kast gefeiert, mit originellen Geschenken gewürdigt und von vier Arbeitskollegen mit Schwyzerörgeli-Melodien ins Pensionsleben begleitet.

Von der Modelleisenbahn in den Führerstand
Viele Kinder haben schon früh Berufsfantasien, so auch Andreas Kast. Während seiner Kindheit in Herisau konnte er vom Küchenfenster aus die Appenzeller Bahn und die Bodensee-Toggenburg-Bahn beobachten, deren Züge über ein grosses Viadukt fuhren. Seit dieser Zeit faszinieren ihn Züge, die Modelleisenbahn wurde zu seinem Lieblingsspielzeug.
Am 1. August 1987 trat Andreas Kast als Fahrdienstanwärter im Depot Oberburg ein. Er erfüllte alle beruflichen Voraussetzungen. Neben einer guten körperlichen Verfassung musste er militärdiensttauglich sein und einen einwandfreien Leumund vorweisen. Rund ein Jahr später bestand er die Lokomotivführerprüfung bei der EBT (Emmental-Burgdorf-Thun-Bahn). Als 1997 verschiedene Bahnen fusionierten, entstand daraus der «Regionalverkehr Mittelland RM». Während dieser Zeit bedienten die Lokführer Personen- und Güterzüge. Andreas Kast war damals auf verschiedenen Lokomotiven der SBB, DB, BLS und privater Lokvermieter tätig. Dies verlangte Streckenkenntnisse von Deutschland über den Gotthard nach Chiasso und den Lötschberg-Simplon nach Domodossola. Im Jahr 2006 fusionierte der RM mit der BLS. Mit jeder Fusion bekam Andreas Kast zwar einen neuen Arbeitgeber, doch seine Aufgaben blieben dieselben.

Letzte Fahrt nach 36 Jahren
Neben Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und der Fähigkeit, ruhig und sicher zu handeln, verlangt der Beruf eines Lokomotivführers viel Flexibilität. Es wird im Schichtbetrieb gearbeitet, was bedeutet, dass Dienstbeginn und Dienstschluss jeden Tag anders sind. Die erste Schicht beginnt um 03.20 Uhr, die letzte endet um 02.20 Uhr. Andreas Kast arbeitete auf 32 verschiedenen Touren. Um die Sicherheit der Passagiere zu gewährleisten, kennt jeder Lokführer die Fahrdienst-, Betriebs- und Dienstvorschriften.  Zudem sind periodische Prüfungen und bahnärztliche Gesundheits-Checks obligatorisch.
Da nicht in jedem Zug weiteres Zugpersonal mitfährt, ist ein Lokführer im Störungsfall oft auf sich allein gestellt. Er ist zuständig für die Information der Fahrgäste und die Disposition mit Leitstelle und Betriebsleitzentrale. Auf die Frage, wie er diese Verantwortung täglich tragen konnte, meinte der frisch Pensionierte, dass man über all die Jahre lerne, damit umzugehen.

Vom Lokführer zum Rentner
Ein Lokomotivführer sitzt täglich im Führerstand, erlebt Wind und Wetter, Schneelandschaften und Frühlingswälder, Sonnenauf- und untergänge. Ob ihm diese Vielfalt nicht fehlen wird? Andreas Kast hat keine Bedenken, sondern viele Ideen für die Zeit nach dem Berufsleben: Er plant beispielsweise ausgedehnte Ausflüge mit der Bahn, grössere Velotouren und Hütedienste bei den Enkelkindern. Ein liebgewonnenes Hobby wird Andreas Kast wie seinen Beruf ebenfalls an den Nagel hängen: die technische Leitung des Tunnelkinos Triebwagen Abe 4/4 Nr. 11, der zwischen Oberdorf und Gänsbrunnen verkehrt (www.tunnelkino.ch).
Diese historische Zugskomposition mit dem restaurierten Triebwagen Nummer 11 der BLS lag ihm während den vergangenen Jahren sehr am Herzen. Darum war es für Andreas Kast etwas Besonderes, die letzte Dienstfahrt auf Gleis 11 zu beenden.

Helen Käser