«Goethe und Gotthelf in Brasilien»
06.06.2024 Lützelflüh, Aktuell, KulturAm vergangenen Donnerstag hielt Marcus Vinicius Mazzari, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität São Paulo in Brasilien, im Gotthelf Zentrum einen Vortrag zum Thema «Goethe und Gotthelf in Brasilien – die Bedeutung deutscher Literatur in Südamerika». «Noch nie war die deutschsprachige Literatur auf dem brasilianischen Buchmarkt präsenter als heute», begann Marcus Mazzari seine Ausführungen. Das Spektrum der übersetzten Werke umfasst weit über 2000 Titel und reicht vom Nibelungenlied bis hin zur Gegenwartsliteratur. Mazzari, der gegenwärtig als Gastdozent an der Universität Basel lehrt, entdeckte seine Leidenschaft für die deutsche Sprache übrigens, als er die Fussballweltmeisterschaft in Deutschland im Jahr 1974 gebannt vor dem Fernseher mitverfolgte. Er selbst hat seither zahlreiche Werke aus dem Deutschen ins Portugiesische übersetzt – unter anderem Gotthelfs wohl berühmteste Novelle «Die schwarze Spinne», auf portugiesisch «A aranha negra». Auf den Schweizer Schriftsteller und Lützelflüher Pfarrer aufmerksam wurde der Brasilianer dank dem deutschen Autor Thomas Mann. Dieser äusserte sich begeistert über Gotthelfs «Die schwarze Spinne», die er «wie kaum ein zweites Stück Weltliteratur» bewundere. Mazzari wies darauf hin, dass Gotthelfs Darstellung des Teufelspakts bemerkenswerte Parallelen zum wohl bedeutendsten brasilianischen Prosaroman des 20. Jahrhunderts «Grande Sertão» von João Guimarães Rosa aufweist, in dem ebenfalls ein Bündnis mit dem Teufel eine zentrale Rolle spielt. «Die schwarze Spinne» finde im akademischen Milieu Brasiliens grossen Anklang.
In seinem Referat zeigte er weiter auf, wie die Werke von Johann Wolfgang von Goethe die Schriftsteller der brasilianischen Romantik beeinflussten. Aus Mazzaris Ausführungen wurde deutlich, dass die Literatur auf der ganzen Welt miteinander verflochten ist und sich wechselseitig prägt. Dies erkannte bereits Goethe, der im Jahr 1827 proklamierte: «National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit». Bei der Herausbildung von Weltliteratur, zu der auch die Werke Gotthelfs gehören, spielen Übersetzer wie Mazzari eine entscheidende Bedeutung. Sie sind, wie Goethe festhielt, «Vermittler» eines «allgemein geistigen Handelns». Das Übersetzen erachtete der deutsche Schriftsteller deshalb als «eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen.»
Markus Hofer