Ein neues Schuljahr mit einer alten Problematik

  13.08.2024 Bildung / Schule, Aktuell, Gesellschaft, Region

Die Thematik des Lehrpersonenmangels ist nach wie vor aktuell. Die Zeitung «D’REGION» sprach mit Pino Man­giarratti, Präsident Bildung Bern, über die Problematik, mögliche Massnahmen sowie die kantonale Bildungsinitiative.

«D’REGION»: Wie ist der Stand der Dinge betreffend Lehrpersonenmangel wenige Tage vor dem Schulstart? Steht am Montag in allen Klassenzimmern eine Lehrperson? Wie viele offene Stellen gibt es momentan noch?
Pino Mangiarratti: Eine Woche vor Schulstart sprach Regierungsrätin Chris­tine Häsler an der Medienkonferenz von 43 offenen Stellen. Das hat sich vielleicht bis gestern noch leicht geändert. Wie das zum Schulstart genau aussah, kann ich nicht beantworten. Gewiss ist aber die Tatsache, dass nicht vor jeder Klasse eine ausgebildete Lehrperson stand. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass 20 Prozent aller Stellen für Lehrpersonen im Kanton Bern mit unausgebildetem Personal besetzt sind. Das bedeutet, dass jede fünfte Lehrperson über keine entsprechende Ausbildung verfügt. Darauf weisen wir von Bildung Bern schon seit längerer Zeit hin. In qualitativer Hinsicht ist der Lehrpersonenmangel folglich nach wie vor dramatisch. Auch aus quantitativer Sicht ist die Lage immer noch besorgniserregend, obwohl die 43 offenen Stellen mit Blick auf die Tausenden von Lehrpersonen winzig wirken. Doch trifft dies auf eine Klasse zu, ist es für die betroffenen Kinder wie auch deren Eltern schlimm.

«D’REGION»: Was können Sie zur Thematik mit Blick auf die Region sagen?
Pino Mangiarratti: Genaue Zahlen betreffend offene Stellen an den Schulen in der Region kann ich nicht nennen. Ich kann aber sagen, dass sich der Lehrpersonenmangel im Kanton Bern längst nicht mehr nur auf Randregionen beschränkt, sondern auch Städte und Agglomerationen betrifft.

«D’REGION»: Das Thema rund um den Lehrpersonenmangel zieht sich weiter hin. Weshalb konnte das Problem Ihrer Meinung nach noch nicht gelöst werden beziehungsweise weshalb fand keine Verbesserung der Lage statt?
Pino Mangiarratti: Strukturelle Probleme sind hierbei ausschlaggebend. Es gab Entwicklungen, die den Lehrpersonenmangel zumindest für uns von Bildung Bern absehbar machten, da in den vergangenen Jahren eine grosse Anzahl Pensionierungen von Lehrpersonen stattfand und gleichzeitig die Zahl der Schülerinnen und Schüler zunahm. Es ging und geht also gewissermassen eine doppelte Schere auf. Weiter hatte die Einführung des Lehrplans 21 zur Folge, dass es mehr zu unterrichtende Lektionen gab. Nach der Einführung benötigten die Schulen folglich auch wieder mehr Lehrpersonen.
Implizite Gründe wie Arbeitsbedingungen und gestiegene Anforderungen an die Lehrpersonen verstärken die Problematik. In der Gesellschaft hat ein Wandel stattgefunden, Eltern und Kinder sind teils fordernder. Die Aufgaben einer Lehrperson haben zugenommen, beispielsweise die Thematik rund um Mobbing, Ernährung oder Medienkonsum, um nur einige zu nennen. Zahlreiche Funktionen sind hinzugekommen. Organisatorische und administrative Aufgaben sind ebenfalls anspruchsvoller geworden, das wirkt sich auf den Beruf an sich aus.
Über all dem schwebt dann auch das Thema der Entlöhnung. Im Kanton Solothurn beispielsweise verdienen Lehrpersonen teils bis zu 1000 Franken pro Monat mehr als im Kanton Bern.


«D’REGION»: Was halten Sie von den vom Kanton Bern vorgestellten Massnahmen, sprich der Lohnerhöhung für Klassenlehrpersonen sowie der Entlastung von fünf Stellenprozenten?
Pino Mangiarratti: Wir sind froh und dankbar über und für die Massnahmen. Betreffend Entlöhnung gibt es eine Funktionszulage, unabhängig von Stufe oder Alter der Lehrperson. Die Entlastung von fünf Prozent ist nicht riesig, aber ganz sicher eine Verbesserung. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, auf welchen mit Blick auf die kommenden Herausforderungen jedoch weitere Schritte folgen müssen. Wir müssen den Beruf unbedingt attraktiver machen.

«D’REGION»: Weshalb erhalten nur Klassenlehrpersonen und nicht auch Fachlehrpersonen mehr Lohn?
Pino Mangiarratti: Die Klassenlehrpersonen sind in einer Schlüsselposition, sie haben am meisten Kontakt mit den Eltern, koordinieren Elternabende, organisieren Ausflüge und Reisen und sind die ersten Ansprechpersonen für die Schülerinnen und Schüler. Sie tragen die Hauptverantwortung im Schulalltag. Es wurde immer schwieriger, Personen für diese wichtige Position zu finden, weshalb eine Verbesserung der Entlöhnung und die Entlastung extrem wichtig waren. Auch in der Privatwirtschaft oder Verwaltung wird zusätzliche Verantwortung mit zusätzlichem Lohn abgegolten.

«D’REGION»: Sie haben gesagt, der Beruf der Lehrperson soll attraktiver gemacht werden. Welche Massnahmen fordern Sie dafür? Wie kann die Attraktivität gesteigert werden?
Pino Mangiarratti: Unsere Forderungen sind nicht auf einer solch hohen Genauigkeitsstufe, in der wir beispielsweise fordern, dass pro Klasse maximal 20 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden, da wir wissen, dass es ganz verschiedene Unterrichtsmodelle gibt. Wir fordern, dass es kein Mindestpensum gibt und dass genügend guter Unterrichtsraum zur Verfügung gestellt wird. Es gilt allgemein, die Arbeitsbedingungen im Beruf zu verbessern.
Ich persönlich würde mir wünschen, dass die Pflichtlektionen reduziert werden, weil die Arbeit neben dem Unterricht teils immens ist. Eine andere Möglichkeit wäre, die Lehrpersonen von den administrativen Aufgaben zu befreien.  

«D’REGION»: Morgen Mittwoch, 14. August  2024, wird die kantonale Bildungsinitiative eingereicht. Welche Bedeutung ordnen Sie dieser zu, auch mit Blick auf die Bedeutung des Themas Bildung in der Gesellschaft?
Pino Mangiarratti: Wir sind stolz und froh, haben wir mit rund 20 000 Unterschriften mehr als gefordert zusammengebracht. Wir finden es wichtig und richtig, dass die Qualität in der Bildung künftig wieder eine wichtigere Rolle in der Gesellschaft spielt. Die letzten 20 Jahre haben gezeigt, dass sich einiges ändern muss. Die zuvor angesprochenen 20 Prozent an unausgebildetem Personal können nicht die Lösung für den Lehrpersonenmangel sein. Die Qualität muss wieder in den Vordergrund rücken. Wir sind froh über jede einzelne Person, die sich für den Beruf der Lehrperson interessiert. Und die Quereinsteigenden sollen besser unterstützt werden, um die Nachqualifikation zu absolvieren. Die Quereinsteigenden können sehr bereichernd fürs System sein.
Ich selbst bin Lehrer und bin mir sicher, dass niemand verstehen würde, wenn ich plötzlich im Spital als Arzt arbeiten oder als Pilot in ein Flugzeug einsteigen würde.

«D’REGION»: Was muss mittel- bis langfristig geschehen, um das Problem des Lehrpersonenmangels zu lösen?
Pino Mangiarratti: Mittel- und langfristig muss wie gesagt die Attraktivität des Berufes gesteigert und der administrative Aufwand reduziert werden. Weiter muss in die Infrastruktur investiert werden. Gleichzeitig soll den Personen, die nicht über die nötige Ausbildung verfügen, ermöglicht werden, diese nachzuholen.

Joel Sollberger


Image Title

1/10


Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote