Auf der Intensivstation – und die Zeiger der Uhr laufen
16.04.2025 Aktuell, Gesellschaft, BurgdorfAuf der interdisziplinären Intensivstation in Burgdorf werden Patientinnen und Patienten in besonders kritischen gesundheitlichen Situationen betreut – wegen einer schweren Krankheit, nach einem schweren Unfall oder nach einer grossen Operation. Die medizinischen und technischen Möglichkeiten nehmen immer mehr zu, doch es ist auch immer ein Kampf gegen die Zeit. In seinem Vortrag spricht Dr. med. Michael Glas, Leitender Arzt der Intensivmedizin, über seinen Alltag, die Faszination Intensivmedizin und die Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen. Er erörtert Fragen, die sich Intensivmediziner/innen immer wieder stellen: Wo liegen die Grenzen der Intensivmedizin für den einzelnen Patienten und wie viel Therapie möchte die einzelne Patientin für wie lange? Auch die Möglichkeiten zu vorher verfassten Willensbekundungen der Patientinnen und Patienten werden besprochen.
«D’REGION»: Wie sieht der Alltag auf einer interdisziplinären Intensivstation aus?
Michael Glas: Unser Arbeitsablauf ist, wie auf anderen Stationen auch, sehr durchstrukturiert – und trotzdem recht unvorhersehbar. Pflegepersonal und Assistenzärztinnen und -ärzte arbeiten in drei Schichten. Zudem gibt es immer eine kaderärztliche Intensivmedizinerin, einen kaderärztlichen Intensivmediziner, die/der tagsüber ebenfalls fix auf der Station arbeitet und am Abend und nachts Rufbereitschaft hat.
Am Morgen beginnen wir ab 7 Uhr mit der Übergabe von der Nacht, anschliessend findet die Aufgabenplanung für den Tag zwischen Pflege und Ärzteschaft statt. Nach dem gemeinsamen Frührapport mit den Medizinerinnen und Medizinern starten wir mit der Patientenvisite am Bett – dies nimmt den Rest des Vormittags ein. Verlegungen von Patientinnen und Patienten, die die Intensivstation verlassen können, werden für die weiterbehandelnden Kolleginnen und Kollegen vorbereitet. In dieser Zeit werden pflegerische Massnahmen, aber auch die meisten anderen Massnahmen an den Patientinnen und Patienten (Physiotherapie, gegebenenfalls Ergotherapie und / oder Logopädie) und Interventionen durchgeführt.
An den Nachmittagen finden mehrmals pro Woche gemeinsame Weiterbildungen zu ausgewählten Themen oder Fallbesprechungen auf der Intensivstation statt. Zudem werden geplante Eintritte aus dem Operationssaal nach grösseren Eingriffen oder bei entsprechender Risikokonstellation auf die Intensivstation übernommen.
Auch wenn es wegen der erforderlichen engen Betreuung und unbedingter Massnahmen nicht immer einfach ist, versuchen wir, nachts den Patientinnen und Patienten eine ausreichende Erholung vom anstrengenden Tagesprogramm zukommen zu lassen. Ungeachtet des Rund-um-die-Uhr-Betriebs sind wir immer auf Notfälle vorbereitet und übernehmen ungeplante Eintritte von schwerkranken Patientinnen und Patienten zu jeder Zeit.
«D’REGION»: Welche besonderen Herausforderungen begegnen Ihnen täglich? Wo sehen Sie die Grenzen der Intensivmedizin?
Michael Glas: Neben dem Verständnis und dem Management, der Behandlung der medizinischen Probleme, die die Patientin, den Patienten auf die Intensivstation geführt haben, rücken auch ethische Fragestellungen immer mehr in unser Berufsfeld. Häufig spannt sich während der intensivmedizinischen Behandlung ein Bogen zwischen «medizinisch möglich» und «medizinisch / ethisch sinnvoll». Dabei spielen die Vorerkrankungen, die vorhandenen Ressourcen der Patientin, die enge Kommunikation mit dem Patienten beziehungsweise stellvertretend mit seinen Angehörigen über Therapiewünsche und Wertevorstellungen natürlich eine entscheidende Rolle.
Werden Grenzen des medizinisch sinnvoll Machbaren, der Medizinethik oder des Patientenwillens erreicht, so gilt es, einen Schritt zurückzutreten, die Krankheitssituation erneut mit Patienten/-innen (sofern möglich), Angehörigen und dem Team zu diskutieren und einen alternativen Behandlungsansatz zu finden (Komfort- oder Palliativbehandlung).
«D’REGION»: Was fasziniert Sie persönlich an der Intensivmedizin und welche Aspekte empfinden Sie als besonders erfüllend oder schwierig?
Michael Glas: Interdisziplinäre Intensivstationen wie in Burgdorf bieten ein breites Spektrum an Krankheitsbildern der Akutmedizin aus den Bereichen Innere Medizin, Chirurgie, Orthopädie, Neurologie etc. Dadurch ist unser Fach sehr abwechslungsreich, kein Fall gleicht dem anderen und wir sehen uns jeden Tag medizinischen und medizinethischen Herausforderungen gegenübergestellt.
Weiter sehen wir mit den getroffenen Massnahmen bei der Unterstützung von ausgefallenen Organsystemen (wie z.B. Atmung oder Kreislauf) unmittelbar den Einfluss unseres Handelns.
«D’REGION»: Die technische Entwicklung schreitet immer weiter voran – wie beeinflusst das die Entscheidungen in der Intensivmedizin?
Michael Glas: Auf der Intensivstation ist der breite Einsatz von Technik Alltag. Als Anfänger ist man bei seinen ersten Einsätzen auf der Intensivstation auch schnell mal von alldem übermannt. Schnell ist die Patientin, der Patient von zahlreichen Medizingeräten und Überwachungsmonitoren umgeben. Die technische Entwicklung in den letzten Jahrzehnten hat die Art von Intensivmedizin, die wir betreiben, erst möglich gemacht und die Grenzen des Machbaren immer weiter verschoben. Und trotzdem steht nicht die Technik, sondern die Patientin und der Patient sowie deren Wertevorstellungen im Mittelpunkt der Behandlung.
«D’REGION»: Wie treffen Sie Entscheidungen, wenn die Therapie an ihre Grenzen stösst? Welche Rolle spielen die Wünsche der Patientinnen und Patienten, beispielsweise in Form von Patientenverfügungen, im Entscheidungsprozess?
Michael Glas: Der Wille oder mutmassliche Wille des Patienten (häufig lässt der Zustand des Patienten eine Äusserung dazu nicht mehr zu) steht an oberster Stelle bei der Entscheidungsfindung, wenn Grenzen erreicht werden. Patientenverfügungen sind normalerweise nicht genau genug, um die spezielle Situation, in der sich die Patientin oder der Patient befindet, wiederzugeben – sie vermitteln aber die Einstellung zu Krankheit, Leben und Tod und erleichtern damit dem Behandlungsteam Entscheidungen.
«D’REGION»: Wie wichtig sind die Angehörigen der Patientinnen und Patienten, die bei Ihnen auf der Intensivstation liegen?
Michael Glas: Der Einsatz der Angehörigen ist ganz hoch anzurechnen. Neben der Rolle als Stellvertretende für die Patientin oder den Patienten und derjenigen als Vermittler/innen von Werten bei Entscheidungen mit dem Behandlungsteam sind sie auch indirekt ein Teil von diesem: als vertraute und geliebte Person am Bett, als Motivator/in während eines langwierigen Frührehabilitationsprozesses, als Sprachrohr und Übersetzer/in (verbal und nonverbal).
«D’REGION»: Wie gelingt die Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen auf einer Intensivstation, und warum ist sie so entscheidend?
Michael Glas: Aufgrund des so breiten Krankheitsspektrums auf der Intensivstation ist die Rolle des Intensivmediziners ein wenig mit der eines Hausarztes zu vergleichen: Wir kennen als Allrounder unsere Patientinnen und Patienten, können einen Teil der Erkrankungen selbst behandeln, sind aber für viele Belange auch auf die Zusammenarbeit mit den Spezialistinnen und Spezialisten (Chirurginnen, Chirurgen oder Kolleginnen und Kollegen aus den medizinischen Subspezialitäten) angewiesen.
Die Interdisziplinarität fängt aber schon auf der Intensivstation selbst an: Die Patienten/-innenversorgung kann nur dann gut funktionieren, wenn sich Pflegepersonal, Therapeutinnen und Therapeuten aus verschiedenen Bereichen und Ärztinnen und Ärzte auf Augenhöhe begegnen und die Patientenversorgung als Team durchführen.
zvg
Vortrag: Burgdorf, 24. April 2025, 19.00 Uhr, Spital Emmental, Oberburgstrasse 54, Kurslokal (EG).