«Atemberaubender Gestank» oder «himmlische Wohlgerüche»?

  05.03.2025 Burgdorf, Kultur, Region

Der Schriftenmaler, sozialdemokratische Politiker, Gewerkschafter, Lyriker und Arbeiterdichter Albert Minder (1879 –1965) ist der älteren Generation Burgdorfs noch in bester Erinnerung. Der äusserst gelehrte, etwas kauzige und bisweilen eigensinnige Autodidakt lebte viele Jahre zurückgezogen in seinem winzigen Burgdorfer «Dichterhäuschen» am Schönebüeli, umgeben von den zahllosen Büchern seiner Bibliothek. Als junger Erwachsener begann er in Hofwil eine Ausbildung zum Lehrer, die er aber aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Später absolvierte er die Kunstgewerbeschule in Basel und war ab 1902 vierzig Jahre lang als Dekorationsmaler in der Maschinenfabrik Aebi in Burgdorf tätig. Der Sohn einer jenischen Familie machte als begabter Schriftsteller und Lyriker auf sich aufmerksam. Seine Gedichte veröffentlichte er unter anderem im «Neuen Postillon». Er sass für die SP im Burgdorfer Stadtparlament und beriet die städtische Jugend wohlwollend. Er half mit, die umtriebigen «Roten Falken», welche den Knaben und Mädchen aus der Arbeiterschaft eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung ermöglichen sollten, zu gründen und propagierte in zahlreichen Vorträgen die Alkohol- und Nikotinabstinenz.

«Die Korber-Chronik – Aus dem Wanderbuch eines Heimatlosen»
Dieser Tage ist im Zürcher Chronos Verlag Albert Minders Hauptwerk «Die Korber-Chronik – Aus dem Wanderbuch eines Heimatlosen» (ursprünglich im Jahr 1947 in Zürich erschienen) neu ediert worden. Kommentiert wurde die Chronik von den Kulturwissenschaftlerinnen Christa Baumberger und Nina Debrunner. Albert Minder beschrieb in diesem Werk präzise die Welt der «Korber», der Nicht-Sesshaften des Berner Seelands, aus der Sicht seiner Vorfahren. Der Autor greift bis weit ins 19. Jahrhundert zurück, als die damals noch Heimatlosen dank der Fürsprache des jungen Berner Regierungsrats und späteren Bundesrats Jakob Stämpfli im Jahre 1850 im jeweiligen Aufenthaltskanton eingebürgert wurden und somit nicht mehr nur «herumgeschubst» werden konnten. In Albert Minders epochalem, mit Humor gewürztem Werk, das lange vergriffen war, kommen christliche Missionare, steinreiche Wohltäterinnen, Anarchisten, Sozialisten ebenso wie Reaktionäre vor, die ein hartes Vorgehen gegen das «Korberpack» forderten. Dies war natürlich ein hartes, demütigendes Schimpfwort. Den «Korbern», die heute «Jenische» oder «Sinti und Roma» genannt werden, wurde damals alles zugetraut und allerhand angedichtet. Sie seien Faulenzer, Alkoholiker, Diebe und Bettler, hiess es landauf, landab. Es gab daher auch Bemühungen, die «Fahrenden» zur Sesshaftigkeit umzuerziehen, beispielsweise nach den Jura-Gewässerkorrektionen im Berner Seeland. Der Erfolg dieser obrigkeitlichen Bemühungen war eher bescheiden, denn bauern will gelernt sein, und zudem waren die Böden nicht besonders ergiebig.
Die «Korber-Chronik» wurde eher skeptisch aufgenommen, ja beinahe totgeschwiegen. Einzig einige linke Berner Zeitungen wie die «Tagwacht» berichteten recht ausführlich von einem bahnbrechenden Stück Arbeiterliteratur. Die Zürcher Neuedition ist ein grosser Verdienst, denn Albert Minder war nicht nur ein engagierter Anwalt der Armen, sondern auch ein Chronist der Nichtsesshaftigkeit im Berner Seeland. Der Autodidakt beschreibt in seinem Werk nicht zuletzt den mitunter bitteren Alltag seiner Vorfahren. Er gibt den fahrenden Heimatlosen und Landarbeiterfamilien eine Stimme, schildert aber auch den Überlebenskampf der Stadtbevölkerung in Bern und Burgdorf sowie die Arbeitswelt im Gefängnis und in Tabakfabriken. Er betrieb dazu intensive Archivstudien (leider ohne Quellenangaben) und betätigte sich als eigentlicher Historiker.

Die Zigarrenfabrik Schürch & Co.
Interessant ist sicher für das Burgdorfer Lesepublikum, dass die Eltern von Albert Minder einige Zeit in der ehemaligen Burgdorfer Zigarrenfabrik Schürch & Co. gearbeitet haben. Direkt unten an der Ringmauer gelegen, war die Zigarrenfabrik mit ihrem Hochkamin ein optisch markantes Gebäude. «Atemberaubender Gestank» von Tabaklauge stach dem erwachsenen Besucher bereits von Weitem in die Nase. Kindern war der Duft eher ein «himmlischer Wohlgeruch». Weshalb wohl? Waren sie etwa bereits bis zu einem gewissen Grad nikotinabhängig? Die Firma «Schürch & Compagnie» trat in direkte Konkurrenz zu diversen Reinacher und Oberwynentaler Betrieben im Aargau. Dort war die Arbeiterschaft freilich recht früh gewerkschaftlich organisiert und entsprechend kämpferisch eingestellt, während man in Burgdorf der «Herrschaft» eher treu ergeben war.
Warum war die Arbeiterschaft in den Zigarrenfabriken sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz bereits im späten 19. Jahrhundert gut organisiert? Die Fabrikation von Zigarren erforderte handwerkliches Geschick und liess sich nicht in Windeseile erlernen, sodass Zigarrenarbeiterinnen und -arbeiter gleichsam als Facharbeiter/innen galten und zur Durchsetzung ihrer Anliegen Druck auf die Unternehmer ausüben konnten.
In der Firma schufteten auffallend viele «Korberinnen und Korber», also ehemals heimatlose Jenische. Sie fertigten «ordinäre französische Zigarren», «kurze Stumpen» oder auch die «langen Grandson» an. Die Wände waren schwarz vom Teer. Dies war bestimmt eine ungesunde, krebserregende Arbeit.
Die Mutter Albert Minders arbeitete in der geheimnisvollen «schwarzen Stube» und verarbeitete den «kurzen, milbigen, raschligdürren Waadtländerzwerg, das laugenschwarze, flotschigschlumpige Kentuckyumblattgehudel und den girgellangen krummkrüppligen Grandsonwickel». Dies waren verschiedene einheimische und ausländische Tabaksorten. Für die Knaben erhöhten die «schaurigen», derb tönenden Benennungen den Reiz des Rauchens. Wir dürfen nicht vergessen, dass damals das Zeitalter der Zigarette noch nicht begonnen hatte und Zigarren nicht nur für die ganz Reichen bestimmt waren.
Der talentierte Albert Minder schied im Alter von 86 Jahren durch Suizid aus dem Leben. Bis heute erinnert der Albert-Minder-Weg in Burgdorf an sein Leben und Werk.

Dr. phil. Fabian Brändle, Historiker
Christa Baumberger und Nina Debrunner (Herausgeberinnen). Albert Minder, Die Korber-Chronik, Aus dem Wanderbuch eines Heimatlosen. Zürich: Chronos Verlag 2025.


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