Hilfsmittel beim Abnehmen

  08.11.2023 Aktuell, Foto, Gesellschaft

Menschen mit sehr starkem Übergewicht (Adipositas) haben nicht selten einen jahrelangen Kampf hinter sich, zahlreiche Diäten ausprobiert, Gewicht verloren und wieder zugelegt, allenfalls sogar bereits versucht, mit einer medikamentösen Therapie abzunehmen. Der Entscheid, chirurgisch gegen das Übergewicht vorzugehen, ist kein leichter. Eine Übergewichtsoperation ist jedoch häufig die effektivste Methode, um dauerhaft Gewicht zu verlieren. In einem Publikumsvortag zum Thema «Übergewicht: Welche modernen (chirurgischen) Behandlungsmöglichkeiten gibt es?» zeigen drei Experten auf, wie Übergewichtsoperationen funktionieren, was Betroffene im Vorfeld alles abklären lassen müssen und wie sich ihr Leben nach einem Eingriff verändert. Die Referenten sind Dr. med. André Gehrz, Leitender Arzt Chirurgie, Dr. med. André Witschi und Dr. med. Christof Buser, Beleg­ärzte Chirurgie.

«D’REGION»: Wie würden Sie einen typischen Patienten oder eine typische Patientin von Ihnen beschreiben?
André Gehrz: Bis auf den Umstand, dass übergewichtige Patientinnen und Patienten nun einmal an Übergewicht leiden, zeigt sich bei ihnen eine sehr breite Palette, sodass man auf keinen Fall von einem typischen Patienten oder einer typischen Patientin sprechen kann. Die Ausprägung des Übergewichtes, die bereits bestehenden oder drohenden Erkrankungen, aber auch der Grund für das Übergewicht können äusserst unterschiedlich sein. Deshalb ist es so wichtig, jeden Patienten und jede Patientin ganz individuell anzuschauen und gemeinsam in der interdisziplinären Adipositas-Sprechstunde einen entsprechenden Behandlungsplan zu erarbeiten.

«D’REGION»: Welche körperlichen Einschränkungen bringt starkes Übergewicht mit sich?
André Gehrz: Auch dies ist natürlich von Patientin zu Patient unterschiedlich, aber häufig zeigen sich nach einer Zeit des Übergewichts Probleme der Gelenke, sodass die Betroffenen nicht nur durch das Gewicht als solches, sondern auch aufgrund von Gelenkbeschwerden (zum Beispiel Arthrose) eingeschränkt sind, insbesondere in ihrer Mobilität. Auch treten häufig Beschwerden der Haut auf. Die Haut kann sich insbesondere zu warmen Jahreszeiten und bei ausgeprägtem Schwitzen in den Hautfalten entzünden kann.

«D’REGION»: Mit welchen psychischen Einschränkungen sind Betroffene beschäftigt?
André Gehrz: Die Ausprägung der psychischen Belastung ist bei jedem Patienten und jeder Patientin unterschiedlich. Häufig sind die Betroffenen Vorurteilen ausgesetzt – etwa, sie würden einfach nicht den Willen haben abzunehmen oder sie seien zu faul, sich zu bewegen. Dabei ist heute bekannt, dass es sich bei krankhaftem Übergewicht um eine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte chronische Erkrankung handelt, die nicht einfach nur mit ein bisschen Bewegung und einem eisernen Willen bezwungen werden kann. Trotzdem werden viele Betroffene stigmatisiert und sind dadurch psychisch schwer belastet, was sie in ihrem Alltag stark einschränkt.

«D’REGION»: Was sagen Sie zu folgender Aussage: Mit der nötigen Willenskraft kann man auch ohne Operation Gewicht verlieren?
André Gehrz: Heute ist bekannt, dass diese Aussage ab einer bestimmten Ausprägung des Übergewichts auf vielleicht maximal zwei Prozent der Bevölkerung zutrifft. Der absolut überwiegende Teil der Erkrankten kann trotz besten Intentionen und eisernem Willen das Ziel auf keinen Fall von alleine erreichen und benötigt ärztliche sowie paramedizinische Unterstützung durch zum Beispiel Ernährungsberatung und/oder Physiotherapie.

«D’REGION»: Welche Ergebnisse lassen sich mit einer Übergewichtsoperation erzielen?
André Gehrz: Neben konservativen Behandlungsmethoden des krankhaften Übergewichts und auch medikamentöser Unterstützung, um diesen Prozess zu begleiten, gibt es eine Anzahl an bariatrischen Operationsmethoden, von denen insbesondere zwei weltweit etabliert sind und die im Spital Emmental durchgeführt werden – der sogenannte Schlauchmagen sowie der Magenbypass. Welche Methode für welchen Patienten oder welche Patientin infrage kommt, ist von vielen Faktoren abhängig und wird durch unser interdisziplinäres Team in Abstimmung mit den Betroffenen genau evaluiert. Jeder Patient und jede Patientin ist anders und das zu erreichende Ziel wird durch multiple Einflussfaktoren bestimmt. Jedoch kann im Durchschnitt mit einer der beiden oben genannten Operationen eine Reduktion von 60 bis 80 Prozent des Übergewichts erreicht werden. Auch das ist natürlich im Hinblick auf viele Faktoren sehr unterschiedlich je nach Patientin oder Patient.

«D’REGION»: Welche Hürden müssen übergewichtige Menschen überwinden, bis sie bei Ihnen auf dem Operationstisch liegen?
André Gehrz: Alle unsere Patienten und Patientinnen werden in der interdisziplinären Adipositas-Sprechstunde betreut. Es ist obligatorisch, dass jeder Patient und jede Patientin neben einer Konsultation bei uns Chirurgen eine Bestimmung der Blutwerte erhält und endokrinologisch eingeschätzt wird. Zusätzlich benötigen alle Betroffenen eine Magenspiegelung und ein Gespräch mit einer Fachperson der Psychiatrie oder Psychologie. Mit diesem Gespräch wird herausgefunden, ob er oder sie sich für solch eine Operation überhaupt eignet. Schlussendlich wird zudem auch die Ernährungsberatung langfris­tig eingebunden. Zusätzliche weitere Abklärungen sind abhängig von den Erkrankungen, die der Patient oder die Patientin mitbringt. Nach der Operation sind lebenslängliche Kontrollen nicht nur sinnvoll, sondern auch vorgeschrieben, um Mangelerscheinungen frühzeitig zu erkennen oder frühzeitig eingreifen zu können, wenn im Prozess der Gewichtsabnahme Probleme auftauchen.

«D’REGION»: Wie werden Betroffene körperlich und psychisch auf eine Operation vorbereitet?
André Gehrz: Vor einer Operation finden sehr viele Gespräche mit dem Team der Endokrinologie, der Chirurgie sowie mit Psychiaterinnen oder Psychologen statt. Zudem sind mehrere Sitzungen mit der Ernährungsberatung vorgesehen, um den Betroffenen nicht nur das beste individuell angepasste Behandlungskonzept anbieten zu können, sondern sie auch auf den Eingriff und das Leben danach entsprechend vorzubereiten.

«D’REGION»: Welches sind die häufigsten chirurgischen Eingriffe, um Übergewicht unter Kontrolle zu bekommen? Sind das komplizierte Operationen?
André Gehrz: Die zwei etabliertesten Methoden auf der Welt und auch in der Schweiz sind zum einen der Schlauchmagen, bei dem der Magen in seinem Volumen reduziert und zu einem länglichen Schlauch gewandelt wird. Zum anderen gibt es den Magenbypass, bei dem der Magen auf eine sehr kleine Tasche reduziert und anschliessend der Dünndarm an zwei Stellen neu verbunden wird, sodass das Verarbeiten der Nahrung und die Aufnahme der Nährstoffe und Kalorien auf eine kürzere Strecke reduziert werden. Bei beiden Methoden kommt es zu einer Restriktion der aufzunehmenden Nahrungsmenge sowie zu komplexen hormonellen Veränderungen im Körper, die dazu führen, dass eine Gewichtsabnahme erreicht werden kann.
Es ist schwierig zu beantworten, ob eine Operation kompliziert ist. Selbstverständlich ist eine Herztransplantation komplizierter und die Entfernung einer Fettgeschwulst am Oberarm sehr viel einfacher. Beide Operationsmethoden sind hoch standardisiert, was sie zum einen natürlich einfacher macht, aber jeder Mensch, jede Anatomie ist anders, sodass trotz aller Standardisierung jede Operation auf die individuellen Verhältnisse angepasst werden muss.

«D’REGION»: Leben Betroffene nach dem Eingriff unkompliziert wie vorher oder ändert sich etwas am Alltag?
André Gehrz: Wir sagen den Patienten und Patientinnen in der Sprechstunde, dass der Eingriff nur ein sehr kleiner Teil des gesamten Prozesses ist, denn nach der Operation ändert sich der Lebensalltag massiv. Die Art und Menge der Nahrungsaufnahme ändert sich vollständig (kleinere Mengen, häufigere Mahlzeiten) und das Trinkverhalten muss den neuen anatomischen Verhältnissen angepasst werden. Bestimmte Verhaltensweisen, die möglicherweise vor der Operation vorhanden waren, müssen abgestellt oder geändert werden. Auf der anderen Seite kann es zu Geschmacksveränderungen kommen, sodass Speisen, die man bisher nicht mochte, plötzlich sehr lecker schmecken oder umgekehrt. Aber die Patientinnen und Patienten verspüren nach einer kurzen Übergangsphase, dass sie im Alltag viel aktiver sein können, leistungsfähiger sind und mehr Sport machen können. Zusätzlich kann es dazu führen, dass der Blutdruck oder eine Blutzuckerkrankheit sich verbessern und man Medikamente reduzieren oder sogar vollständig stoppen kann.

«D’REGION»: Was braucht es, um einen Langzeiterfolg zu erzielen?
André Gehrz: Die Operation als solche ist ein Hilfsmittel, um die Betroffenen dabei zu unterstützen, Gewicht zu verlieren. Jedoch braucht es für einen Langzeiterfolg die strenge Mitarbeit des Patienten oder der Patientin. Disziplin bei der Nahrungsumstellung ist unabdingbar und das Wahrnehmen der lebenslänglichen Kontrollen ist ganz entscheidend, um das neue Körpergewicht auch auf lange Sicht halten zu können.

zvg


Vorträge: Donnerstag, 16. November 2023, 19.00 Uhr, im Kurslokal (EG) im Spital Emmental, Oberburgstrasse 54, Burgdorf; Donnerstag, 23. November 2023, 19.00 Uhr, im Spital in Langnau.


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