Erinnerung an ein dunkles Kapitel der Sozialgeschichte
23.05.2023 Aktuell, Foto, GesellschaftDer Kanton Bern lanciert ab dem 25. Mai 2023 das Projekt «ZEDER – Zeichen der Erinnerung», das an die Opfer der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erinnert, die in der Schweiz bis weit in die 1970er-Jahre unendliches Leid verursachten. Die Vormundschaftsbehörden verdingten Kinder und Jugendliche auf Bauernhöfe oder platzierten sie in Anstalten, wo ihnen vielfach schweres Unrecht widerfuhr. Manche wurden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, geschlagen, körperlich misshandelt und sexuell missbraucht. Aber auch Erwachsene, deren Lebenswandel nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach, gerieten ins Visier der Behörden: Wer als «arbeitsscheu» oder «liederlich» galt, konnte ohne strafrichterliches Urteil «administrativ versorgt» werden. Junge, schwangere Frauen wurden gezwungen, einer Abtreibung oder Adoption zuzustimmen und sich einer Zwangssterilisation zu unterziehen. Wie viele Personen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren, lässt sich nicht genau beziffern. Schätzungen gehen für das 19. und 20. Jahrhundert von mehreren zehn- bis zu mehreren hunderttausend Menschen aus. Im landwirtschaftlich geprägten Kanton Bern, in dem die Verdingpraxis weit verbreitet war, ereigneten sich überproportional viele Fälle.
Ein Zeichen setzen
Es dauerte lange, bis das Unrecht von der Politik anerkannt wurde. Im Jahr 2010 entschuldigte sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Namen der Regierung für das grosse Leid, das die «administrativ versorgten» Personen erlitten hatten. Im Jahr 2013 folgte die Entschuldigung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei allen Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Am
1. April 2017 trat schliesslich das vom Parlament angenommene Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 in Kraft. Dieses beinhaltet unter dem Aspekt der Wiedergutmachung folgende Massnahmen: die Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrages von 25 000 Franken pro Opfer, die Beratung und Unterstützung der Betroffenen durch kantonale Anlaufstellen und Archive, weitere Fördermassnahmen zugunsten der Opfer sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik. Das Bundesgesetz bildet auch die Grundlage für das Projekt «ZEDER», mit dem der Kanton Bern in enger Zusammenarbeit mit Gemeinden, Schulbehörden und kirchlichen Organisationen das dunkle Kapitel der Sozialgeschichte ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt, ein Zeichen der Anteilnahme setzt und durch Aufarbeitung dazu beitragen will, dass sich ein solches Unrecht nie mehr wiederholt. Insgesamt beteiligen sich 166 Städte und Gemeinden an der Aktion – im Einzugsgebiet der «D’REGION» wirken Alchenstorf, Burgdorf, Ersigen, Fraubrunnen, Hellsau, Hindelbank, Höchstetten, Jegenstorf, Kirchberg, Koppigen, Lützelflüh, Oberburg, Rüegsau, Trachselwald, Utzenstorf, Willadingen und Wynigen mit.
Die Leidensgeschichte von Fritz Boss – eine von vielen
Ein Grossteil der Opfer ist heute nicht mehr am Leben. Umso wichtiger ist es, jenen eine Stimme zu geben, die noch Zeugnis vom Unrecht ablegen können, das ihnen damals durch den Staat, die Gemeinden und die Fürsorge widerfuhr. Zu ihnen gehört auch der heute 85-jährige Fritz Boss. Der Zeitung «D’REGION» erzählt er seine Lebensgeschichte und wie er die Zeit als Verdingkind in einer Gemeinde im Seeland erlebte. Seine Geschichte steht stellvertretend für das Schicksal vieler damals verdingter Kinder, deren Leid und Unglück sich in unterschiedlichen Ausprägungen äusserte.
Erinnerungen an die Familie
Fritz Boss kommt am 11. Juli 1938 als drittes von acht Kindern in einem Dorf am Nordfuss des Frienisbergs zur Welt. Er wächst zu einem lebhaften und aufgeweckten Jungen heran. Sein Vater arbeitet als Zimmermann, doch das Einkommen reicht kaum, um die grosse Familie über die Runden zu bringen. Armut und Perspektivlosigkeit lassen den Vater immer öfters zur Flasche greifen. Mehrmals verliert er seine Stelle und die Familie wechselt den Wohnort. Trotz Entbehrungen und Hunger verbindet Fritz Boss aber auch viele positive Erinnerungen mit seiner Kindheit. Sein Vater unternimmt mit ihm manchmal Ausflüge und kocht am Sonntag jeweils für die Mutter und die Geschwister, gemeinsam sammeln sie im Wald Pilze. Freude bereiten dem Jungen auch die Ferien bei seinen Grosseltern. «Wir durchlebten sehr schwierige Zeiten, aber es war meine Familie und mein Zuhause», hält er fest.
Eine Reise ohne Heimkehr
Als Fritz 9-jährig ist, besucht eine streng aussehende Frau mehrmals die Mutter, die danach immer in Tränen ausbricht. Der Knabe weiss nicht weshalb, da die Gespräche jeweils hinter verschlossener Tür stattfinden. Instinktiv spürt er aber, dass die Besuche nichts Gutes bedeuten. Eines Tages erklärt die Mutter ihm, dass er bald weggehen müsse. Wochen vergehen, nichts geschieht. Doch am 20. September 1947 ändert sich plötzlich alles. Sein Vater will ihn mit auf eine Zugreise nehmen. Bei Fritz stellt sich ein mulmiges Gefühl, eine dunkle Vorahnung ein, er muss nämlich auch ein Köfferchen mit Kleidungsstücken packen. Die Fahrt führt in eine Gemeinde im Seeland, anschliessend geht es mit dem Velo weiter auf einen Bauernhof. Dort lässt ihn der Vater zurück, verspricht aber, ihn am nächsten Morgen bei der Bauernfamilie wieder abzuholen. Im tiefsten Innern seines Herzens weiss Fritz allerdings, dass er sein Zuhause, seine Eltern und Geschwister verloren hat. Es dauert zwei Jahre, bis er wieder etwas von seiner Familie hört.
Die abrupte Trennung von den Angehörigen und das gebrochene Versprechen des Vaters erweisen sich als traumatische Erfahrung. «Sechs Wochen lang weinte ich jede Nacht stundenlang in meinem Zimmerchen. Vorher war ich immer tapfer und hart im Nehmen. Aber dort, auf diesem Hof, ist etwas in mir zerbrochen», erklärt Fritz.
Arbeit und Prügel
Für den Knaben beginnt nun ein neues Lebenskapitel als Verdingbub. Er muss auf dem Hof vielerlei Arbeiten verrichten – leichtere und schwerere. Freizeit ist ab sofort ein Fremdwort für ihn. Freude bereitet Fritz aber der Umgang mit den Tieren. Manchmal fühlt er sich auch überfordert. Als er die Gusti hüten muss und diese infolge Trockenheit und wenig Gras von der Weide auf den Kartoffelacker vordringen, um das grüne Kraut zu fressen, bricht er verzweifelt zusammen. Er kann die Tiere nicht zurückhalten und hat Angst, dass sie sich an den giftigen Knollen gütlich tun. Der Bauer findet ihn weinend am Boden. Trost gewährt er nicht, stattdessen droht er ihm: «Verrecken die Gusti, verreckst du auch.» Zurück im Stall schlägt er ihn brutal mit der Mistgabel. Solch fürchterliche Prügel bleiben zum Glück die Ausnahme. Heftige Ohrfeigen und Fusstritte gehören hingegen praktisch zum Alltag.
Um fünf Uhr morgens gibt es für ihn Tagwache. Er muss auf der Weide Gras für das «Veh» holen und besorgt dann den Stall. Nach dem Frühstück – Hunger leiden muss Fritz übrigens nie – rennt er zur Schule, wo er immer als Letzter ankommt. Neben ihm will niemand sitzen, da er nach Stall riecht. Nach Schulschluss bis zum Schlafengehen warten zahlreiche weitere Arbeiten. «Spätestens mit 12 Jahren habe ich dem Bauern den Knecht ersetzt», berichtet Fritz.
Ein Niemand
Der Junge erhält kein Sackgeld. Während andere Knaben schwimmen gehen oder sich Süssigkeiten kaufen, gibts für Fritz nur die Arbeit. Den Traum, ein Instrument zu erlernen, erfüllt ihm niemand. Zu Weihnachten bekommt er jeweils ein Paar Holzschuhe geschenkt, das ein Jahr halten muss. Er kann die Welt nicht mehr verstehen, als er durch Zufall entdeckt, dass der Bauer für ihn alljährlich ein Kostgeld erhält.
Am meisten vermisst Fritz Boss aber Wärme, Geborgenheit und Zuneigung. Der Bauer ist streng und gibt ihm nie ein gutes Wort. Als er nach einem mehrtägigen Spitalaufenthalt bedingt durch einen Arbeitsunfall zurückkehrt, heisst es nur: «Du warst lange genug im Bett, nun wartet viel Arbeit.» Fritz stellt immer wieder schmerzlich fest, dass er ein Niemand ist, nicht geliebt und nicht wertgeschätzt wird.
Versagende Kontrollinstanzen
Gelegentlich erscheint auf dem Hof die Beiständin von Fritz, um sich über sein Wohlergehen zu erkundigen. Der Bauer ist stets im Vorfeld über ihren Kontrollbesuch informiert. Der Knabe wird dann jeweils von der Arbeit weggeholt, annehmbar angezogen und darf sich ausnahmsweise in der Stube den Hausaufgaben widmen. Es scheint also alles in bester Ordnung. Die Frau fragt Fritz – natürlich im Beisein des Bauern oder eines Familienmitglieds, ob es ihm gut gehe und ob er regelmässig seine Hausaufgaben erledige. Dies bejaht er, obwohl er natürlich nie Zeit zum Lernen findet. «Auch bei einem Gespräch unter vier Augen wäre die Wahrheit nie über meine Lippen gekommen. Die Angst vor den Konsequenzen war viel zu gross», betont er.
Der Pfarrer der Kirchgemeinde erscheint ebenfalls regelmässig auf dem Hof, kritisiert die Meistersleute aber nie. Im Gegenteil: Immer wieder erklärt er dem Jungen, er könne froh über seinen Verdingplatz sein. Als die Berufswahl aktuell wird, wünscht sich Fritz, Velomechaniker zu werden. Das ist nicht möglich, stattdessen soll er den Metzgerberuf erlernen. Die Lehrstelle wird erst in einem Jahr frei, zur Überbrückung organisiert der Pfarrer einen Welschland-Aufenthalt. Fritz freut sich sehr darauf. Als der Bauer den Geistlichen eines Tages zu einem üppigen Zvieri einlädt, ist die Stelle im Welschland plötzlich bereits vergeben. Stattdessen muss Fritz ein weiteres Jahr auf dem Hof arbeiten, nun für ein Gehalt von 120 Franken. Erst später erfährt er, dass italienische Saisonniers einen Mindestlohn von 200 Franken erhalten. Dennoch wendet sich von da an für Fritz einiges zum Bessern. Er ist nun nicht mehr Verdingbub, sondern Knecht.
Erzählen, um an das Unrecht zu erinnern
«Einigen Verdingkindern ist es besser als mir ergangen, vielen jedoch schlechter», zieht Fritz Boss Bilanz. «Ich denke da etwa an meine Schwester, die ebenfalls verdingt, vom Bauern vergewaltigt, zur Abtreibung gezwungen und anschliessend zwangssterilisiert wurde.»
Trotz aller Widrigkeiten ist Fritz Boss seinen Weg gegangen. Er arbeitete als Metzger, bei der Bahn und später bis zur Pensionierung bei der GZM in Lyss. Er gründete eine eigene Familie, ist Vater von sieben Kindern, doch die Ehe scheiterte. Im Jahr 1993 lernte er seine heutige Lebenspartnerin kennen. Er ist Mitglied des Vereins Naturfreunde, wandert und kocht gerne. Fritz versucht, das Leben noch zu geniessen.
«Ich habe es geschafft, meine schwierige Kindheit und Jugend zu verarbeiten. Aber nicht alle Menschen sind gleich. Viele Verdingkinder sind an ihrem schweren Schicksal zerbrochen. Mich hat das Leiden stärker gemacht und abgehärtet.» Für Fritz ist es wichtig, dass die Vergangenheit aufgearbeitet wird. Mit Unterstützung einer Tochter und seiner Partnerin hat er seine Lebensgeschichte niedergeschrieben. «Ich hoffe, meine Erinnerungen tragen dazu bei, dass sich ein solches Unrecht nie mehr wiederholt. Manchmal kann ich fast nicht begreifen, wie kalt, grausam und brutal Menschen sein können.»
Markus Hofer
Gedenkanlass in Burgdorf
Im Rahmen des Projekts «ZEDER – Zeichen der Erinnerung» lädt die Stadt Burgdorf am Donnerstag, 25. Mai 2023, um 18.30 Uhr zu einem Gedenkanlass in den Gemeindesaal mit anschliessendem Apéro ein. Der Anlass richtet sich an Betroffene und die interessierte Öffentlichkeit.
Vom 25. Mai bis 9. Juni 2023 wird auf der Brüder-Schnell-Terrasse zudem eine thematische Plakatausstellung mit zwanzig Sujets gezeigt. Besuchende können Eindrücke, Beiträge und Geschichten zum Thema in einem Gästebuch festhalten.
Über weitere Gedenkanlässe in den Gemeinden des Einzugsgebiets der «D’REGION»
informiert die Website www.zeichen-der-erinnerung-bern.ch/de/gegen-das-vergessen/orte-der-erinnerung/.