Über den Griespass - Unterwegs mit Ger Peregrin
18.01.2022 Aktuell, Foto, Region, Kultur, GesellschaftWer aber eine Neigung hat zu ganzheitlichem Denken und Fühlen, zu ganzheitlichem Erleben, der wird Obergesteln zum Ausgangspunkt seiner Schritte wählen. Denn Obergesteln ist Zielort der Alpentraversierung über die Grimsel nach Meiringen, und Meiringen wiederum ist Etappe des alten Brünig-Saumpfades.
Und so wird es möglich, die alten Säumerzüge nachzuerleben, über den Brünig hinunter zum Vierwaldstättersee, nach Luzern und Zürich, hinaus in deutsche Lande, oder von Meiringen über Brienzersee und Thunersee, der Aare entlang hinunter nach Bern bis ins ferne Frankreich.
Von Obergesteln aber führt der alte Saumpfad durchs Äginental, über den Nufenen hinüber ins Bedretto oder über den Griespass hinunter ins Val Fromazza, hinunter nach Domodossola und Mailand.
Wer seiner Fantasie freien Lauf lässt, wird die Hufe der Saumtiere auf den Steinplatten des Saumpfades über den Griespass klappern hören, er wird die lange Reihe der Saumtiere – zeitweise waren es Kolonnen von über hundert Tieren – bergauf und bergab steigen sehen; schwerbeladen mit Reis und Mais, Wein, Schnaps und Gewürzen, wenn es nach Norden ging, mit Werkzeugen, Hausgerät, Käse auf dem Weg nach Süden. Bis dann im Jahr 1882 die Gotthardlinie eröffnet wurde und die Eisenbahn die Säumer brotlos machte und höchstens dem Schmuggel noch einigen Spielraum liess ... das ist der Lauf der Welt. Vom einstigen Saumpfad ist ein schmaler Bergweg geblieben. Ausgetretene Steinplatten, eindeutiges Menschenwerk, sind heute noch stumme Zeugen vergangener Zeiten.
Doch beginnen wir unsere Saumpfadwanderung am Anfang, unten im Tal der jungen Rhone, der Rotten, wie sie hier in Obergesteln und Ulrichen noch heisst. Im «Loch», dem Weiler gegenüber Ulrichen, schwenken wir ins Äginental ein. Äginental: Saumpfad, Wanderweg, Autostrasse. Als Wanderer fürchten wir den Autoverkehr wie die alten Säumer die Eisenbahn. Doch unsere Sorge ist unbegründet. Der Wanderweg verläuft abseits der Strasse, die Abgase verflüchtigen sich in der Alpenluft und der Autolärm wird durch die rauschenden Wasser der Ägina übertönt: Unser Wanderglück bleibt ungetrübt. Wir wandern talaufwärts, es riecht nach Heu und Harz und über uns lacht ein blauer Himmel.
Nach Landstafel verzweigt sich unser Weg, links hinauf zum Nufenenpass, rechts zum Griespass. Steil geht es bergan, hinauf zum Griessee. In der dunklen Fläche der gestauten Wasser spiegeln sich die Eismassen des lang gezogenen Griesgletschers, das wuchtige Binnenhorn und seine Ausläufer. Links von uns zweigt ein Pfad ab; er schlägt einen Haken um den Nufenenstock und führt hinab in die arktische Welt des Val Corno.
Wir aber wandern dem See entlang, am Nordwestfuss des Grieshorns, queren matschige graue Schneefelder ... der letzte Winter schickt uns seinen müden Gruss. Und bald sind wir oben am Griespass, der hier ohne Passkontrolle, ohne Zollhaus und Wache die Grenze zwischen der Schweiz und Italien bildet.
Italien. Das ist für den nördlichen Menschen fast immer ein Zauberwort für Heiterkeit und Sonnenschein, auch für uns. Aber diesmal zeigt sich die südliche Schöne von einer andern Seite. Noch hatten wir im Wallis einen blauen Himmel über uns; jetzt aber treiben düstere Nebelschwaden von Süden her über den Sattel des Griespasses, jetzt jagt uns ein grimmiger Wind schwere Regenwolken entgegen, nimmt ein düsterer Himmel uns die Sicht.
Ich bin schon immer der Meinung gewesen, Wandern sei auch bei Regen lustig und es gebe eigentlich kein schlechtes Wanderwetter, sondern allenfalls schlechte Wanderkleider, wie der klassische Spruch es meint.
Diesmal aber, ich gestehe es, wird es auch mir zuviel. In einer fernen Italienischstunde habe ich einmal den Satz gelernt «piove a catinelle» – es regnet wie an Kettchen – in freier Übersetzung soviel wie «es giesst wie aus Kübeln». Das Bild schien mir immer übertrieben. Jetzt aber erleben wir, was dieses «piove a catinelle» heisst, hier, auf dem einstigen Saumpfad, der sich in unzähligen steilen Kehren von der Passhöhe in die Valle del Gries hinabwindet. Auch in der anschliessenden Valle di Morasco prasselt der Regen unvermindert und unerbittlich auf uns herunter. Und was die kübelweise über uns ausgeschütteten Fluten nicht restlos zustande bringen, das vollenden die über die Ufer getretenen Bergbäche.
Nach einer Stunde Abstieg ist es so weit: Kein trockener Faden bleibt an uns, wir sind nass und kalt bis auf die Knochen. Ein Italiener, der vom Bättelmatthorn zurückkehrt – auch er vom Wetter überrumpelt – nimmt uns mit. Unsere Hemmungen, so triefend in sein Auto zu sitzen, quittiert er lachend ... er trieft genau so wie wir. Er macht uns Komplimente für unser Italienisch, aber bald stellt sich heraus, dass er Deutsch spricht, Walser-«Tiitsch».
Ethnische Eigenart des Val Formazza, dieses italienischen Hochalpentals, das sich wie ein Keil zwischen Tessin und Wallis bis zum Griespass vorschiebt: Seit früheren Zeiten bevölkern die Walser das Tal, und die Älteren im Val Formazza sprechen neben ihrem Italienisch auch noch «Tiitsch». Das Val Formazza heisst bei ihnen «Pomatt»; die vielen Walsersiedlungen im Pomatt tragen Doppelnamen: Da steht Chiesa für Andermatten, San Michele für Truffalt, Valdo für Wald, Ponte für Zumsteg, Grovella für Gurfelen, Canza für Früttwald, Riale für Kehrbächi, Morasco für Muraschg ... ein Paradies für neugierige vergleichende Sprachnarren. Die Älteren sprechen es noch, dieses Walser-«Tiitsch», das den Dialekten des Goms oder des Oberhasli so nahe kommt, dass sich die Leute dieser Talschaften noch mühelos verständigen können. Zur Zeit von Mussolini wurde diese sprachliche Minderheit im Pomatt unterdrückt ... die Sprache sei ein Verrat an der Ideologie des Faschismus, hiess es. Heute sind es gerade die Jungen, die sich der Sprache ihrer Vorfahren wieder zuwenden, sagt unser Alpinist vom Bättelmatthorn, selbst in den Schulen werde wieder «Tiitsch» unterrichtet.
Für uns allerdings bleibt die Verständigung schwierig. Wenn man den richtigen Singsang nicht hat, so wird man, wie wir mit unserem «Bärndütsch», nicht verstanden.
Und so geht es schliesslich in der Wirtschaft, wo wir einkehren, doch italienisch zu und her. Das beginnt mit einem händeringenden «Mamma mia» der Wirtin, die uns sofort ins Badezimmer steckt, wo wir uns waschen, wärmen und trocknen können. Und es endet am knisternden Kaminfeuer, bei Polenta con funghi und Barbera. Die Welt ist wieder in Ordnung, auch wenn es draussen im Val Formazza immer noch «a catinelle» regnet.
Ger Peregrin