Das Lueg-Denkmal – eine geschichtsträchtige Stätte, die zum Verweilen einlädt
09.06.2020 Foto, Kultur, Region, KaltackerDas Kavallerie-Denkmal auf der Lueg bei Affoltern im Emmental ist ein beliebtes Ausflugsziel für Wanderer, Radfahrer, Naturliebhaber und Geschichtsinteressierte aus nah und fern. Wer die relativ steile Anhöhe zum Denkmal hinaufwandert, wird bei schönem Wetter mit einer phänomenalen Aussicht belohnt, die ihresgleichen sucht. Der Blick reicht vom Jura über die sanften Hügel des Emmentals und die Ackerflächen des Mittellands bis zu den Alpen. Obwohl der beeindruckende Aussichtspunkt lediglich 887 Meter über Meer gelegen ist, sind an klaren Tagen mehr als 300 Berggipfel in 14 verschiedenen Kantonen sichtbar. Eine Panoramatafel liefert für all jene, welche mit der Geografie der Schweiz nur oberflächlich vertraut sind, wertvolle Informationen.
Einst ein militärischer Signalpunkt
Auf dem Hügel, dem sogenannten Heiligenlandpöli, thront eine mächtige, mystisch anmutende, jahrhundertealte Linde, die reichlich Schatten spendet. Es erstaunt kaum, dass Germanen und Slawen Linden einst als heilige Bäume verehrten. Sitzbänke laden zum Verweilen und zum Betrachten der Landschaft ein. Man spürt förmlich, dass man sich an einem geschichtsträchtigen Ort befindet. Die heutige Begegnungsstätte diente in längst vergangenen Zeiten wie zahlreiche weitere markante Anhöhen als Hochwacht, als militärischer Signalpunkt. Mittels Wachtfeuer und Rauchsignalen wurde der Landsturm mobilisiert und auf Gefahren hingewiesen. Das Netz der in optischer Verbindung miteinander stehenden Hochwachten, ein uraltes militärisches Alarmsystem, kam zum letzten Mal im Jahr 1798 in der Nacht vom 4. auf den 5. März kurz vor dem Untergang des alten Berns zum Einsatz: Die Chutzenfeuer loderten auf, als die französischen Truppen bereits an der Sense und vor Fraubrunnen standen.
Das Lueg-Denkmal erinnert an die verstorbenen Kavalleristen und ein stürmisches Kapitel der Geschichte
Unmittelbar neben der Linde befindet sich das Lueg-Denkmal. Es wurde im Jahr 1921 errichtet und erinnert an die während des Ersten Weltkriegs verstorbenen Kavalleristen. Es dokumentiert ein stürmisches und konfliktbeladenes Kapitel der Geschichte der Schweiz und der ganzen Welt. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn mit Rückendeckung des Deutschen Kaiserreichs dem Staat Serbien den Krieg und setzte damit eine verhängnisvolle Eskalation in Gang. Der entflammte Konflikt mündete in der damals grössten militärischen Auseinandersetzung aller Zeiten, die rund zehn Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten das Leben kostete. Am 3. August 1914 ordnete die neutrale Schweiz die Generalmobilmachung an. Zur Verteidigung der Grenzen rückten die bernischen Dragoner, Guiden und Mitrailleure ein. Die Eidgenossenschaft blieb zwar von direkten Kriegshandlungen verschont, sah sich allerdings mit einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise konfrontiert. Ein grosser Teil der Bevölkerung litt zusehends unter der Verknappung der Lebensmittel und der Teuerung. Die sozialen Spannungen führten schliesslich im November 1918 zum Landesstreik, an dem sich rund 250 000 Arbeiter und Gewerkschafter beteiligten. Der Bundesrat, der eine Revolution fürchtete, bot Truppen der Armee auf, um die Ordnung wiederherzustellen.
Die «Spanische Grippe» – eine tödliche Pandemie
In der Endphase des Ersten Weltkriegs erreichte die «Spanische Grippe» die Schweiz. Die erste Welle im Juli 1918 forderte unter den Armeeangehörigen bis zu 35 Opfer pro Tag. Eine zweite, noch schlimmere Welle suchte die Schweiz von Ende September bis Ende November 1918 heim. Ein dritter, milderer Ausbruch wurde im Januar 1919 registriert. Zeitweilig kam das gesellschaftliche Leben in der Schweiz – ähnlich wie beim Lockdown infolge des neuartigen Coronavirus – praktisch völlig zum Erliegen. Schulen, Kirchen und Märkte blieben geschlossen. Tanz-, Theater- und Konzertaufführungen mussten abgesagt werden. In Militärbaracken und Schulhäusern richtete man Notfallspitäler ein. In einem Bericht des Samariterbundes aus dem Jahr 1938 wird die Pandemie im Rückblick mit folgenden Worten geschildert: «Von Kraft strotzende Soldaten wurden oft binnen weniger Tage dahingerafft. Eine begreifliche Unruhe bemächtigte sich der Bevölkerung, als aus Militärspitälern täglich mehrere Leichen unter gedämpftem Trommelklang oder unter den Klängen des Chopinschen Trauermarsches, mit militärischem Ehrengeleite ihrer Heimat zugeführt wurden. Die Seuche erfasste auch die Zivilbevölkerung und unerbittlich holte sich auch hier der Tod seine Opfer.» Insgesamt starben rund 25 000 Schweizerinnen und Schweizer an der Spanischen Grippe. Weltweit kamen zwischen 27 und 50 Millionen Menschen ums Leben – weitaus mehr als durch die Kriegshandlungen während des Ersten Weltkriegs. Auf einer Plakette beim Lueg-Denkmal steht geschrieben: «Erbaut zu Ehren der 54 bernischen Kavalleristen, die im 1. Weltkrieg der ‹spanischen Grippe› zum Opfer fielen.»
Die feierliche Einweihung des Denkmals erfolgte im Oktober 1921
Den Beschluss, die Verstorbenen mit einem Denkmal auf der Lueg zu ehren, fasste die Bernische Kavallerie-Offiziersgesellschaft am 28. September 1919 in Worb. Die Einheiten der Reitertruppe sammelten knapp 30 000 Franken – damals eine äusserst stolze Summe. Die künstlerische Leitung für den Bau der Gedenkstätte lag beim Architekten und Münsterbaumeister Karl Indermühle, der als Spezialist der spätgotischen Baukunst u. a. die Französische Kirche und das Brunnerhaus in Bern renovierte und ergänzte. Indermühle ist zudem bekannt für zahlreiche Schulhaus- und Kirchenbauten – u. a. der Kirche in Hindelbank. Die Ausführung oblag dem Maurermeister Fritz Aeschlimann aus Rinderbach, Gemeinde Rüegsau. Die mächtige Steinsäule mit sechs Flachreliefs erinnert optisch an den «Turm der Winde» nahe der Akropolis in Athen. Die Namen der Verstorbenen sind in den Stein eingehauen. Das Denkmal wurde am 2. Oktober 1921 im Beisein der bernischen Regierung, 2000 berittener Kavalleristen und von rund 20 000 Zuschauern/-innen feierlich eingeweiht.
«Die Erinnerung an die traditionsreiche Kavallerie ist noch heute sehr präsent»
Für den Unterhalt des Denkmals, das im Jahr 2003 renoviert wurde, ist die Bernische Kavallerie-Stiftung von der Lueg zuständig. Als Denkmalwart amtiert Stiftungsratsmitglied Ernst Schick aus Burgdorf, ehemaliger Kavallerie-Offizier. «Die Erinnerung an die traditionsreiche Kavallerie ist noch heute sehr präsent. Obwohl die berittenen Kampfeinheiten 1972 per Parlamentsbeschluss aufgelöst wurden, ist der Zusammenhalt unter den ehemaligen Kavalleristen sehr gross. Das Lueg-Denkmal ist für mich ein wichtiger Ort, um den ehemaligen Kameraden zu gedenken. Auch das traditionelle Luegschiessen, das 1930 zum ersten Mal durchgeführt wurde, bildet ein wichtiger Bestandteil der Erinnerungskultur und fördert natürlich die Zusammengehörigkeit», erklärt Schick. Das Luegschiessen – und damit auch die kollektive Ehrbezeugung für die an der «Spanischen Grippe» verstorbenen Kavalleristen – wird in diesem Jahr allerdings wegen der aktuellen COVID-19-Pandemie nicht stattfinden. Die nächste Durchführung erfolgt am 28. August 2021.
Der Besuch der Begegnungsstätte lohnt sich auch für all jene, welche sich nur wenig für die Vergangenheit interessieren. Auf der Anhöhe befindet sich eine der am schönsten gelegenen
Brätli-Stellen des Emmentals mit Sitzbänken, Holz und einer Feuerstelle.
Markus Hofer